Wer hilft Jürgen aus der Klemme ?

 

       Wie immer in letzter Zeit ging ich am Abend ohne zu murren ins Bett.

       »Was ist los mit dir, Peterle?«, wunderte sich Papa. »Du scheinst dich ja geradezu aufs Zubettgehen zu freuen. Bist du krank? Oder hast du einen spannenden Krimi unter der Bettdecke?«

       Die Wahrheit konnte ich nicht sagen. Aber ich fand, Papa habe wenigstens ein Fünkchen Wahrheit verdient. »Ich denke mir jetzt abends im Bett immer Geschichten aus«, gestand ich. »Die sind spannender als jeder Krimi.«

       »Schreib sie doch auf und mach ein Buch daraus. Dann haben noch mehr Leute was davon«, schlug Papa vor.

       »Erst mal muss ich sie ja selber erleben«, sagte ich und verbesserte mich dann schnell. »Ich meine, ich muss sie mir selber ausdenken.«

       »Viel Spaß dabei«, sagte Papa und gab mir einen Kuss. 

       Mama, die auf dem Sofa saß und eine Zeitschrift las, schob die Brille ins Haar und sagte: »Denk dir doch etwas Lustiges aus, das nicht so aufregend ist, Sophie. Dann schläfst du besser.«

       Papa und ich tauschten einen schnellen Blick, und dann fingen wir beide - wie auf Kommando - an zu singen: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten. Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten…« Es ist unser Lieblingslied, und wir sangen alle Strophen. Danach ging ich ins Bett und las Großmamas Tagebuch weiter ...

 

Offenbar war im Winter 1962/63 nicht allzu viel  los gewesen. Großmama hatte zu Weihnachten Schlittschuhe bekommen, und als es bitter kalt wurde, hatte sie auf dem kleinen See im Park Schlittschuhlaufen geübt. Holger und Günter waren derweil mit anderen Jungs zum Eishockeyspielen gegangen, wo Mädchen nicht mitmachen durften, was Großmama ›doof‹ fand. Ich blätterte weiter, und dann las ich mich auf einmal fest:

 

6.3.1963

Heute ist in der Schule etwas passiert! Wir haben eine Englischarbeit geschrieben, die ziemlich leicht war, wenn man die Vokabeln gelernt hatte. An Englischarbeiten stört mich am meisten, dass Herr Dr. Hufnagel während der Stunde immer im Mittelgang auf- und abmarschiert und dabei rechts und links in unsere Hefte schaut. Wie ich das hasse! Diesmal blieb er sogar neben meinem Tisch stehen.

       »Was ist das?«, fragte er streng und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Boden, wo ein Zettel lag. Dumme Frage! Jeder sah sofort, dass es ein Spickzettel war. Ein Spickzettel mit Englischvokabeln. 

      »Wem gehört dieser Zettel?«, brüllte Herr Dr. Hufnagel.

      Niemand meldete sich. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die meisten von uns ahnten wohl, wem der Zettel gehörte. Er lag zwischen dem Platz von Jürgen, der vor mir sitzt, und dem von Tim, auf der anderen Seite des Ganges. Tim ist nicht besonders gut in Englisch, und jeder weiß, dass er oft nicht zum Lernen kommt, weil er auf seine drei kleinen Geschwister aufpassen muss, während seine Mutter arbeitet.

       »Zum letzten Mal: Wem gehört dieser Zettel!«, donnerte Herr Dr. Hufnagel.

       Niemand rührte sich. Tim blickte starr in sein Heft. Klar, für ihn steht viel auf dem Spiel. Er ist schon zweimal beim Schummeln erwischt worden und hat jetzt bestimmt Angst, von der Schule zu fliegen. Ich spürte einen Kloß im Hals. Und dann geschah etwas Verblüffendes. Jürgen hob die Hand und sagte: »Mir.«

       »Dir?« Herr Dr. Hufnagel starrte ihn ungläubig an. Jürgen ist einer der Besten in Englisch.

       »Ja, ich hatte keine Zeit zum Vokabellernen, deshalb hab` ich das gemacht«, sagte Jürgen leise.

       »So was nennt man einen Täuschungsversuch, mein Junge«, knurrte Herr Dr. Hufnagel. Dann zückte er seinen Füller und schrieb eine schwungvolle 6 unter Jürgens Arbeit. »Morgen bringst du mir die Unterschrift von deinem Vater,verstanden?«

       In der Klasse war es mucksmäuschenstill. »Na los, weitermachen, für euch ist die Arbeit noch nicht vorbei.« Herr Dr. Hufnagel klatschte in die Hände und nahm seine Wanderung durch den Mittelgang wieder auf.

       Als er uns den Rücken zuwandte, sah ich, wie Jürgen blitzschnell den Spickzettel aufhob und in seinen Ranzen steckte.

 

Am Nachmittag war ich bei Jürgen zum Hausaufgabenmachen. Er wirkte sehr bedrückt.

       »Kopf hoch, Jürgen! Ich fand's toll, was du gemacht hast«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Du kannst wirklich stolz auf dich sein.«

       »Meinst du?«, fragte er zweifelnd. »Aber das dicke Ende kommt erst noch, Sophie. Mein Vater hat morgen eine ganz schwierige Verhandlung, da

kann ich ihm doch unmöglich heute Abend die 6 beichten. Das regt ihn viel zu sehr auf.«

       »Und was willst du tun?«

       »Ich geb' das Heft einfach ohne Unterschrift ab«, erwiderte Jürgen. »Dann hab' ich zumindest Zeit gewonnen. Sollte die Verhandlung für meinen

Vater morgen gut laufen, lässt er ja vielleicht mit sich reden.«

       »Das glaubst du doch selber nicht!«

       »Hast du eine bessere Idee?«

       »N-nein.«

 

Die Idee kam mir erst, als Jürgen aus dem Zimmer ging, um etwas zu trinken für uns zu holen. Wozu war ich eigentlich ein Ass im Nachmachen von Unterschriften? Die von meinen Eltern und einigen Bekannten beherrschte ich bereits aus dem Effeff, aber auch den markanten Namenszug von Dr. Justus Brandner hatte ich schon etliche Male geübt. Ohne lange zu überlegen, holte ich Jürgens Heft aus dem Ranzen, schraubte meinen Füller auf und setzte ein eindrucksvolles

                       Dr. Justus Brandner  
unter die 6. Dann steckte ich das Heft schnell wieder in den Ranzen. Keinen Augenblick zu früh, denn gleich darauf kam Jürgen zurück, mit zwei Gläsern gelber Brause und einer Schachtel Kekse auf einem Tablett.

       Danach haben wir Hausaufgaben gemacht. Aber jetzt war ich nicht bei der Sache. Ich musste die ganze Zeit an das Heft in Jürgens Ranzen denken. Ob Herr Dr. Hufnagel etwas merken würde? ›Vielleicht, vielleicht auch nicht! Wenn nicht, müsste Jürgen seinem Vater die 6 eigentlich gar nicht mehr beichten‹, dachte ich. Aber ganz geheuer war mir die Sache nicht. Und wie sollte ich es Jürgen beibringen? Nein, das ging nicht.

 

7.3.1963

Ich hab' alles falsch gemacht! Statt Jürgen zu helfen, habe ich ihn noch tiefer hereingerissen. Dabei hatte ich bis vorhin noch ein richtig gutes Gefühl.         Aber dann klingelte es bei uns, und Jürgen stand vor der Tür. Er war ganz aus der Puste. Nein, reinkommen wollte er nicht, er wollte mir nur schnell erzählen, was passiert war.

       »Ich hab' ja gewusst, dass es schlimm wird, Sophie. Aber so schlimm…«, stöhnte er. »Was machst du aber auch für Sachen! Pass auf, mein Vater hat eben vom Gericht aus angerufen. Er hat heute Mittag zufällig Herrn Dr. Hufnagel getroffen, und der hat ihn natürlich auf meine 6 angesprochen. Vater fiel aus allen Wolken, aber das war noch nicht alles, er erfuhr auch noch, dass ich heute das Heft mit seiner Unterschrift abgegeben hab'. Mensch, Sophie, was hast du dir dabei gedacht! Und warum hast du mir nichts davon gesagt?«

       »Weil du das nicht mitgemacht hättest, Jürgen. Ich hab's doch nur gut gemeint.«

       »Du hast Nerven! Und wie komme ich jetzt aus dem Schlamassel wieder raus? Mein Vater ist so was von wütend. Er hat gesagt, dass er in einer halben Stunde zu Hause ist und mir die Hosen strammzieht. Das werd' ich noch aushalten, aber ich schäme mich so vor ihm.«

       »Du musst dich für gar nichts schämen«, sagte ich und schlüpfte in meinen Anorak. »Ich geh' mit dir und sag' ihm, dass ich das mit der Unterschrift gewesen bin.«

       »Das wirst du schön bleiben lassen!«, rief Jürgen zornig. »Vater würde bestenfalls glauben, dass wir die Sache gemeinsam ausgeheckt haben. Wozu willst du dich auch noch opfern? Ich werd' mich bestimmt nicht hinter einem Weiberrock verstecken!«

       »Oho, was sind denn das für Töne«, staunte ich. »Dann sag' deinem Vater aber wenigstens, dass du nicht gemogelt hast.«

       »Und wie soll das gehen, ohne dass ich Tim in die Pfanne haue?« Jürgen tippte sich an die Stirn. »Irgendjemand muss den Spickzettel ja geschrieben haben. Wenn ich jetzt kneife, kriegen sie Tim am Ende doch noch bei der Büx. Nein, Sophie, es hilft nichts: Augen zu und durch. Und wenn mein Vater mir den Kopf abreißt, lauf' ich eben ohne Kopf weiter, so wie Störtebeker, weißt du.«

       Ich nickte. Jürgen hatte mir gerade ein Buch über Klaus Störtebeker geliehen.

       »Ich muss jetzt los«, sagte Jürgen mit einem Blick auf die Uhr. »Wir sehen uns morgen in der Schule, ja?«

       »Ohne Kopf?«, versuchte ich zu scherzen. »Dann halt' mal die Ohren steif, solange er noch dran ist.«

       Aber nach Lachen war uns beiden nicht zumute. Ich schaute hinter Jürgen her und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Und das hab' ich immer noch. Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich Jürgen nicht irgendwie beistehen könnte. Aber wie? Bisher habe ich nur Mist gebaut. Wenn ich das doch wiedergutmachen könnte! Mir fällt bloß nichts ein …

 

›Aber mir‹, dachte ich sofort, als ich das las. ›Ich wüsste schon, wie ich Jürgen aus der Patsche helfen würde.‹

       Kurzentschlossen griff ich nach Großmamas Handy, tippte 8.3.1963 ein und drückte ›Senden‹. Das Licht leuchtete grün! Ich schloss die Augen und überlegte, was ich Herrn Dr. Brandner sagen könnte. Und dabei muss ich eingeschlafen sein …